„Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.“
China ist nicht nur die Heimat des Reises und der gebratenen Hühnerfüße, sondern auch das Ursprungsland der Inneren Kampkunst Tai Chi Chuan, welche ich selbst seit mehr als 15 Jahren praktiziere und in meiner Tai Chi und Qi Gong Schule in Backnang unterrichte. Als sich mir und drei meiner Trainingskollegen die Gelegenheit bot, vier Wochen die Akademie der Inneren Kampfkünste von Meister Tian Liyang in den Wudang Bergen in der Provinz Hubei in Zentralchina zu besuchen und beim Meister persönlich zu lernen, stand die Entscheidung schnell fest. Mitte Mai geht es also vom Frankfurter Flughafen nach Peking und hinein in eine fremde Kultur.
Die Größe Chinas lässt sich auf der 20- stündigen Zugfahrt von Peking nach Wudang Shan nur erahnen. Wir reisen in eine Kulturlandschaft, die auf der Liste der UNESCO Weltkulturerbe aufgeführt ist und deren Wudang- Kampfkunst (Wushu) zu den immateriellen Kulturerben der Volksrepublik China zählt. Diese Kampfkunst umfasst ein komplettes System zur körperlichen und geistigen Gesundheitsförderung und einen philosophischen Unterbau, der nicht zuletzt auf den Lehren des Lao Tse fußt.
In der Schule angekommen werden wir schnell in den streng geregeltem Tagesablauf aufgenommen, der durch den Gong der Schule bestimmt wird. Um 5.30 Uhr in der Früh erklingen die ersten beiden Schläge und um 5. 45 Uhr kann mit dem individuellen Training begonnen werden. Wer es lieber etwas ruhiger angehen lässt und ein ausgewogenes Frühstück braucht, um morgens in Fahrt zu kommen, der kann um 8.00 Uhr zum ersten Apell mit dem gemeinsamen Training in den Tag starten. Nach mehreren Laufrunden um die Schule wird jedes Gelenk gelockert und gedehnt. Das Aufwärmtraining leitet die erst 18 jährige Meisterschülerin Fuzhen, die mit 13 Jahren an die Schule gekommen ist und sich seitdem als einziges Mädchen gegenüber den männlichen Schülern durchsetzen musste.
Anschließend beginnt der Tai Chi Unterricht bei dem Meister Tian Liyang. Er hat sein Heimatdorf als 14 jähriger verlassen und fand letztlich seine Heimat in den Wudang Bergen, wo er vom Abt eines Klosters aufgenommen und persönlich in den Inneren Kampfkünsten unterwiesen wurde. Die Wudang Berge gelten in China als Ursprungsort des Tai Chi Chuan, einer Kampf- und Bewegungskunst, die vor allem dadurch heraussticht, dass sie mit Weichheit das Harte und Unflexible überwindet.
Bevor Meister Tian uns Unterricht erteilt, möchte er unsere Technik sehen und beurteilen. Ihn zeichnet neben einer unglaublichen Präzision, vor allem seine Lockerheit und sein stets freundliches Wesen aus. Mit eben diesem freundlichen Wesen teilt er uns mit, dass wir wohl besser mit den Basics beginnen. Jede Bewegung wird genau analysiert und jede Abweichung korrigiert, was bei 30°C-35°C im Schatten eine durchaus schweißtreibende Angelegenheit ist.
Nach drei Stunden Vormittagsunterricht erklingen drei Gongschläge, die zum Highlight des Tages rufen. Das Mittagessen in der Tai Chi Schule wird jeden Tag frisch von Frau Popo zubereitet und ist ausgezeichnet. Frau Popo ist die Köchin und der heimliche Star der Schule. Nicht nur dank der drei Mahlzeiten, die sie den Schülern bereitet, sondern auch wegen ihres freundlichen Wesens. Stets gutgelaunt vor sich hinsingend schlachtet sie Hühner, zerkleinert Gemüse oder pflegt den Hauseigenen Garten (so gut wie alles baut sie selber an). Und wenn sie nicht gerade ihren Pflichten nach geht spielt sie am liebsten Federfußball, dehnt sich oder zeigt dem jüngsten Schüler heimlich, wie eine komplizierte Bewegung geht.
Nach der Mittagspause, die wegen der großen Hitze überall eingehalten wird, folgen noch einmal drei Stunden Training. Uns wird geraten, die erlernten Bewegungen nach dem Abendessen, bis zum Einbruch der Dunkelheit nochmals alleine zu üben, damit sie am nächsten Tag auch sitzen.
Der letzte Gong des Tages ertönt um 21.00 Uhr und ruft zur Nachtruhe. Wir vier haben jeweils ein eigenes Zimmer bekommen, was gegenüber den Schülern, die dort leben ein wahrer Luxus ist. Diese müssen sich zu acht ein Zimmer teilen. Dank der Stechmücken sind wir allerdings auch nie ganz alleine im Zimmer. Das Schnakennetz ist während der Zeit in China zu einem wichtigen Begleiter geworden und jeder von uns hat über die vier Wochen seine eigene Technik zur Anbringung des Netzes entwickelt.
Am Wochenende haben die Schüler frei und für uns bietet sich die Gelegenheit die nächstgelegene Stadt unsicher zu machen. Das Städtchen Wudan Shan ist bequem mit dem Bus zu erreichen. Auf der Fahrt zeigt sich, dass die Chinesen Experten der optimalen und vollständigen Flächennutzung sind. Seite an Seite stehen kleine Läden neben neu errichteten Hochhäusern und jeder nicht zu Wohn- und Arbeitszwecken genutzte Quadratmeter wird als landwirtschaftliche Nutzfläche verwendet. Als Europäer fällt man in der chinesischen Kleinstadt auf, denn nur Backpacker verirren sich gelegentlich dorthin. Die Definition von Kleinstadt unterscheidet sich auch von den europäischen Richtmaßen. Vor fünf Jahren noch mit ca. 50. 000 Einwohnern, hat sich die Zahl innerhalb dieser kurzen Zeit verdoppelt.
Wer Diät betreibt hat es in Wudang Shan nicht leicht. Überall befinden sich Straßenstände mit frisch zubereiteten Leckereien und spätestens am dritten kann man nicht mehr einfach so vorbei schlendern. Von kleinen, gefüllten Teigtaschen, bis hin zu den berühmten Bautze, Dampfnudeln aus Hefeteig, kann man hier alles für wenig Geld bekommen. In der Kleinstadt lernen wir eine ganz neue Art des Zweikampfes kennen und zwar einen um den Preis. Ob bei der Schneiderin, die offensichtlich ihren Spaß daran hat, oder im Souvenirladen. Feilschen um den Preis gehört einfach dazu. Dank eines sprechenden Taschenrechners ist dabei auch die Sprachbarriere kein Hindernis. Einziges Gebot ist immer Gelassen und Freundlich zu bleiben, dann kommt man überall ans Ziel.
Am Freitagabend bietet sich uns beim Besuch des Hauptplatzes in Wudang Shan ein Bild, das die Lebensfreude der Bewohner beeindruckend veranschaulicht. Auf dem Platz tummeln sich zahlreiche Einheimische, die beim gemeinsamen Tanzen, Federballspielen oder beim Fernsehschauen auf mehreren aufgestellten Leinwänden ihren Spaß haben. Die Ungezwungenheit und die Gelassenheit sind beeindruckend. Eine Kleiderordnung besteht nicht und ist auch kein Ausschluss Kriterium, wie man bei der stattfindenden Aerobic Gruppe sehen kann. Jeder kann mitmachen, egal ob Hausfrau mit Kittelschürze, Skretärin auf Stöckelschuhen oder Jugendliche mit Platteauschuhen an den Füßen.
Mit dem täglichen Training und den Unmengen an Eindrücken vergeht die Zeit wie im Flug. Nach vier Wochen heißt es schließlich Abschied nehmen. Wir vier Gäste organisieren ein Festessen und trainieren anschließend ein letztes Mal, um unsere Fortschritte begutachten zu lassen. Der Meister ist zufrieden und schickt uns mit dem Rat, täglich weiter zu üben, auf die Heimreise oder wie Lao Tse sagen würde: „Verantwortlich ist man nicht nur für das was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut.“
Für mehr Eindrücke: Bilder Chinareise |